Jeden Freitag um 09:40 Uhr und 16:10 Uhr kommentiert Klassikexperte Axel Brüggemann das Geschehen aus Klassik und Kultur.
Ich weiß: man kann - nein - man will das Thema eigentlich nicht mehr hören; Aber gerade für Kulturschaffende, für Künstlerinnen und Künstler ist das, was sie derzeit sehen, kaum noch auszuhalten. Am Freitagabend ist es wieder so weit: Zwei Viertelfinale – Schweiz gegen Spanien und Belgien gegen Italien. Keine Frage: die Fußball EM war bislang – trotz des Ausscheidens der Deutschen – durchaus spannend, Mannschaften wie die Schweiz zeigen, wie wichtig Teamgeist ist, Begeisterung – echte Fußball-Kultur!
Und, ja: natürlich sollen so viele Fans wie möglich in den Stadien sein. Denn auch das gehört zur Fußball-Kultur: Brodelnde Hexenkessel, Fangesänge, Schlachtrufe, kollektive Umarmungen oder gemeinsame Tränen. ABER: Wir befinden uns immer noch mitten in einer Pandemie. Und niemand weiß das besser als unsere Künstlerinnen und Künstler.
Langsam, ganz langsam können sie wieder anfangen: Konzert- und Opernhäuser öffnen mit ausgeklügelten Sicherheitskonzepten, die Bayreuther Festspiele werden mit Schachbrettmuster arbeiten – also auf die Hälfte der Besucher verzichten. Überall bestehen Publikums-Restriktionen, Testzwang, Vorsicht.
All das nervt, ist aber – für jeden aufgeklärten Menschen – richtig in dieser Zeit.
Aber wie passt das zusammen mit 1991 Corona-Ansteckungen bei schottischen Fans im Wembley Stadion? Noch einmal: fast 2000 Fans haben sich an einem Abend im Stadion, vermutlich mit der Delta-Variante, angesteckt, auch aus Finnland werden Corona-infizierte Fans gemeldet, die sich in St. Petersburg angesteckt haben.
Gerade habe ich mit dem Pianisten Rudolf Buchbinder telefoniert – er hätte am Montag nach St. Petersburg fliegen sollen, für ein Konzert: DAS wurde abgesagt!
Und es wird noch absurder: Länderchefs „appellieren“ an die UEFA, die Corona-Regeln einzuhalten. „Appellieren“?… Was habe ich da verpasst? Was ist das mit der UEFA? Sie kann bestimmen, in welcher Farbe Stadien erstrahlen – oder eben nicht. Und jetzt hat sie auch alle Freiheiten im Umgang mit Corona-Regeln? Und das, während unsere Kulturveranstalter mit strengsten staatlichen Auflagen zu kämpfen haben? Ich habe jedenfalls noch nicht gehört: „Katharina Wagner kann bei den Bayreuther Festspielen machen, was sie will - wir bitten sie aber, vorsichtig zu sein.“
Was da gerade passiert, ist ein gigantischer Vertrauensverlust. Nicht, dass wir uns missverstehen; Ich bin einer der größten Fußballfans (wenn auch von Zweitligist Werder Bremen) – und ein Befürworter vorsichtiger Öffnungen. Derzeit aber beobachten wir – mal wieder – eine Zweiklassen-Gesellschaft: Narrenfreiheit für die Kommerz-Fußball-Kultur und Unverständnis und Restriktionen für das, was eigentlich die größte Solidarität braucht: die Kulturschaffenden unserer Kulturnation.
(02.07.2021/ A. Brüggemann)
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