Ein seltenes musikalisches Wunder: In zwei englischen Kreisarchiven wurden ein bislang unbekanntes Lied und ein autografisches Tastenmanuskript von Henry Purcell entdeckt – Werke, die das Bild eines der bedeutendsten Komponisten des späten 17. Jahrhunderts neu beleuchten.
Es sind jene seltenen Momente, die die Musikwissenschaft elektrisieren: Wenn eine vergessene Partitur aus einem Archiv ans Licht tritt, der Staub von Jahrhunderten aufgewirbelt wird – und plötzlich eine neue Facette im Werk eines alten Meisters aufscheint. Nun ist es geschehen mit Henry Purcell, dem großen englischen Komponisten des 17. Jahrhunderts, dessen Leben viel zu früh endete.
330 Jahre nach seinem Tod ist gleich zweifach Unerhörtes gefunden worden: In Worcestershire entdeckten Musikwissenschaftler die gedruckte Partitur eines bislang unbekannten Liedes, in Norfolk ein prachtvoll gebundenes Manuskript für Tasteninstrumente, das in Teilen Purcells eigener Hand entspringt – das erste Autograf des Komponisten seit mehr als drei Jahrzehnten. Beide Funde lagen unscheinbar verborgen zwischen Verwaltungsakten und juristischen Dokumenten lokaler Behördenarchive, wo sie über Jahrhunderte niemand beachtete.
Das neuentdeckte Lied trägt den Titel "As soon as day began to peep" und entstand 1691 für eine Komödie von Dramatiker und Vielschreiber Thomas D’Urfey. Der schrille Monsieur le Prate, die Karikatur eines französischen Snobs, vergleicht darin sein Liebeswerben mit dem Miauen einer Katze vor verschlossener Tür – und Purcell ließ die Musik tatsächlich miauen. Das Publikum der Londoner Uraufführung indes buhte: Man empfand die Satire als bösartige Attacke auf ein Mädchenpensionat in Chelsea, jenes Internat, an dem wenige Jahre zuvor Purcells Oper "Dido and Aeneas" von Schülerinnen gesungen worden war. Dass der Komponist sowohl an der Oper für diese Schule als auch an deren Persiflage beteiligt war, verleiht dem Fund eine zusätzliche kulturhistorische Pointe.
Nicht minder aufsehenerregend ist das zweite Dokument: ein in rotes Leder mit Goldprägung gebundenes Manuskript, um 1810 kurioserweise als Ratsregister der Stadt Thetford wiederverwendet. Zwischen amtlichen Einträgen verbergen sich neun Stücke Purcells und seines Zeitgenossen John Blow – teils in Fassungen, die von den bekannten abweichen. Drei der Werke stammen erkennbar aus Purcells eigener Feder. Unter ihnen frühe Versionen der G-Moll-Suite für Cembalo, die durch ihre abweichende Ornamentik und Textur Einblicke in Purcells eigenes Spiel geben.
Stephen Rose, Leiter des Projekts "Music, Heritage, Place: Unlocking the Musical Collections of England’s County Record Offices", dass sich zur Aufgabe gemacht hat, die durch Sparmaßnahmen oftmals vernachlässigten Bestände der britischen Archive zu durchforsten, zeigt sich dem Guardian gegenüber begeistert ob des unerwarteten Fundes: "Beide Entdeckungen zeigen die entscheidende Rolle der Kreisarchive und ihrer Mitarbeiter bei der Bewahrung dieses musikalischen Erbes. Beide liefern wichtige Einblicke in die Art von Musik, die Purcell in den letzten fünf Jahren seines kurzen Lebens schrieb."
Purcell, der 1659 in Westminster geboren wurde und 1695 im Alter von nur 36 Jahren starb, gilt als herausragender Meister der englischen Barockmusik. Seine Opern, Oden und Kirchenwerke – allen voran "Dido and Aeneas" und "The Fairy Queen" – verbinden französische Eleganz, italienische Ausdruckskraft und eine unverwechselbar englische Tonpoesie. Sein früher Tod hinterließ eine Lücke, die erst mit Händel wieder gefüllt wurde.
Dass nun zwei bisher unbekannte Quellen ans Licht kommen, wirkt wie ein verspätetes Geschenk. Die Funde werden digitalisiert und damit Forschern und Interpreten weltweit zugänglich gemacht. Schon am 24. Oktober wird das Manuskript in einer BBC-Sendung vorgestellt, in der Stephen Rose selbst eine der Purcell’schen Allemanden am Cembalo erklingen lässt.
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