Acht Takte, die seit Jahrhunderten unermüdlich wiederkehren, und doch nie die gleiche Geschichte erzählen. Johann Pachelbels Kanon in D-Dur ist mehr als ein Hochzeitsklassiker. Er ist die geheime Blaupause der Popmusik, die sich durch Folk, Britpop, Rap und Punk zieht. Manchmal klingt er offensichtlich, manchmal nur im Verborgenen – und trotzdem ist er überall gegenwärtig.
Es gibt Stücke, die sind wie DNA: Sie tragen eine Information in sich, die unendlich oft kopiert werden kann, ohne an Kraft zu verlieren. Johann Pachelbels "Kanon und Gigue in D-Dur" ist ein solches. Ein barockes Kammermusikstück, vermutlich um 1680 entstanden, für drei Violinen und Basso continuo. Nichts Spektakuläres auf den ersten Blick, kein monumentales Oratorium, keine schwelgerische Oper. Aber diese acht Takte, die unermüdlich wiederkehren – 28 Mal, wenn man mitzählt –, sind wie ein unsichtbares Uhrwerk, das alles antreibt, was sich darüber erhebt.
Jahrhundertelang lag der Kanon im Dornröschenschlaf, bis ihn die französische Paillard-Aufnahme 1968 wieder ans Licht holte. Seitdem ist er nicht nur der unangefochtene Liebling auf Hochzeiten – er ist heimlich zum Grundakkord der Popkultur geworden. Manchmal zitiert man ihn offen, manchmal schleicht er sich heimlich, gleich einem Phantom in den Song. Doch wer die Ohren spitzt, hört ihn überall:
Das musikalische Äquivalent zu Emil Nicolais Gedicht „Straßenbild“, ein Panoptikum des Elends und der Armut, in Worte gekleidet von einem sensiblen Poeten: ein alter Mann mit kaputten Schuhen, eine Frau, die sich an den Erinnerungen ihrer Vergangenheit wärmt. McTell singt 1969 über Einsamkeit, Armut und das, was wir im Alltag so gut wie möglich ignorieren zu suchen. Die Harmonien lehnen sich eng an Pachelbel, und gerade dadurch entfaltet sich diese milde Traurigkeit, die nicht resigniert, sondern auch einen zarten Hoffnungsschimmer schenkt.
Und dann, fast 20 Jahre später, Kylie Minogue. Man möchte meinen, zwischen barocker Strenge und australischem Plastikpop läge eine ganze Galaxie. Doch das britische Produzententeam Stock, Aitken und Waterman wusste genau, was funktioniert: Die gleiche Akkordprogression, nun in Neonfarben gegossen. 1988 tanzte die Welt dazu, und Kylie wurde über Nacht zum Star.
1996, Britpop auf dem Höhepunkt. Noel Gallagher setzt sich ans Klavier, und plötzlich klingt es, als sei John Lennon im Studio. Die Harmonien sind vertraut, die Melodie geht ins Herz, die Stadionchöre tun ihr Übriges:
„Her soul slides away/ But don't look back in anger / I heard you say“
"Don’t Look Back in Anger" wurde zum britischen Heiligtum, spätestens, als Menschen nach dem Anschlag von Manchester 2017 spontan anfingen, es gemeinsam zu singen. Die Kanon-Folge ist hier nicht nur ein Gerüst, sondern eine emotionale Stütze für eine ganze Nation.
Ein Sommerhit 1997, und dazu ein Kunststück: Coolio und seine Produzenten nahmen das barocke Motiv quasi unverhüllt, sampleten es, interpolierten den Kanon und strickten daraus eine Rap-Ballade, die zugleich nachdenklich und motivierend ist. Kein Verstecken, kein Umdeuten – die barocke Folge trägt den Text über Durchhalten, Zielstrebigkeit und Gemeinschaft. Das Cembalo im Hip-Hop - man möchte es fast für kitschig halten - wenn es nicht so gut funktionieren würde.
Hier wird die Progression zur intellektuellen Fingerübung. Ezra Koenig singt 2013 über Bücher, Plattensammlungen und verflossene Lieben, während im Hintergrund der bekannte Akkordkreis rotiert. Indie-Pop, der sich seiner kulturhistorischen Ahnenreihe bewusst ist – und dabei trotzdem angenehm unangestrengt klingt.
Eine Rockoper im Miniaturformat. Pompös, theatralisch, aufgeladen mit Pathos. 2006 machten My Chemical Romance mit diesem Song den Emo zum Massenphänomen. Hinter der Fanfare und dem Gestus der Tragödie arbeitet – richtig – das gleiche barocke Muster. Manchmal braucht man für die ganz große Geste eben einen soliden Unterbau: Pachelbels Akkorde als Katalysator einer ganzen Subkultur.
Noch bevor sie zu den Disco-Königen wurden, schrieben die Bee Gees in den 60ern den melancholischen Popsong „Spicks & Specks“. Ein fast unscheinbarer Popsong, aber man hört den Kanon im Hintergrund mitschwingen, als hätte Barry Gibb Pachelbel zufällig im Kofferradio entdeckt. Trotz – oder gerade wegen – des musikalischen Minimalismus geht das Stück ins Ohr und setzt sich dort unweigerlich fest. „Spicks & Specks“ machte das dazugehörige Album zum ersten Hit-Topseller und ebnete den Weg für eine der prägendsten Bands der 70er-Disco-Bewegung.
„Memories“ ist mehr noch als von Pachelbel inspiriert, fast schon ein Cover. Frontmann Adam Levine singt 2019 ein stilles Lied über Verlust und Erinnerung, gewidmet dem verstorbenen Manager der Band. „Here’s to the ones that we got“ – und unter allem läuft der Kanon, transponiert, aber unübersehbar. Ein globaler Hit, und für viele der erste bewusste Kontakt mit Pachelbel (zumindest seit der letzten Hochzeit).
Zuerst 1979 als Utopie der Village People, dann 1993 als ironisch-ernste Hymne der Pet Shop Boys: „Go West“ erhebt sich über die harmonische Bewegung, die schon im Barock funktioniert hat. Chor, Stadion, Regenbogenfahnen – und darunter Pachelbels ewige Akkordfolge.
Gerade der Punk scheint an dem barocken Kanon einen Narren gefressen zu haben: Ob als hyperaktive Ska-Version der Band Streetlight Manifesto („On & On & On“), oder als albern-rotzige Version der Sindelfinger Szene-Urgesteinen WIZO („K.I.K. III“) – die bekannteste Version dürfte der Smash Hit „Basket Case“ der Stadionrocker Green Day sein. Billie Joe Armstrong singt 1994 von Panikattacken und dem Gefühl, den Verstand zu verlieren. Rasende Gitarren, rotzige Energie – und im Kern wieder die gleiche harmonische Struktur. Man kann schreien, schimpfen, spotten: Die acht Akkorde bleiben ungerührt und übertragen auch diese Gefühle perfekt auf das pogende Publikum.
So begleitet uns Johann Pachelbel seit über 300 Jahren. Bei Hochzeiten, in Stadien, in Clubs, auf Beerdigungen. Mal als gefällige Hintergrundmusik, mal als Fundament für Revolte, mal als leiser Trost. Acht Akkorde, die für immer unsterblich sind.
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