Jede Woche wählt ein Mitglied aus der Redaktion eine persönliche Wahre Geschichte der Woche aus und verleiht ihr eine besondere Note.
Diese Woche kommentiert Florian Schmidt:
Er ist ein himmelhoch jauchzender Schwärmer und ein zu Tode betrübter Rebell. Ein junger Mann, der aus jeder Pore lebt, liebt und leidet. Johann Wolfgang von Goethes Werther.
Der intelligente, hochsensible, schwärmerische Werther verliebt sich in Lotte, die zumindest seine Begeisterung über Natur und Liebe und seine empfindsame Gefühlssprache erwidert. Doch die Liebe des jungen Rechtspraktikanten bleibt unmöglich, denn Lotte ist bereits verlobt. Am Ende schießt sich Werther eine Kugel in den Kopf.
In sechs Wochen schreibt sich der gerade einmal 24 Jahre alte Goethe den Frust über die unglückliche Liebe zu Charlotte Buff von der Seele. Bis heute identifizieren sich junge Menschen mit Werthers Weltschmerz, seiner Kompromisslosigkeit und den schmerzlichen Abgründen von unerwiderter Liebe. Das war schon damals so, denn Goethes autobiografisch geprägter Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ löst 1774 ein europaweites „Werther-Fieber“ aus und wird zum ersten Bestseller der Literaturgeschichte. Junge Männer und Frauen kleiden sich wie der junge Held und die sanfte Lotte, Napoleon ist ein bekennender Bewunderer des Buchs.
Wahrscheinlich durchlebt und durchleidet jeder Teenager ähnliche amouröse Achterbahnfahrten wie Werther. Auch ich wusste schon als 17-Jähriger um die Wahrheit der großen Liedzeile aus „Nature Boy“, die Nat King Cole so schmerzlich schön sang: "The greatest thing you′ll ever learn, Is just to love and be loved in return". Die unerwiderte Liebe – in meinem jugendlichen Fall waren es vielleicht doch eher die verliebten Schwärmereien und die sich oft unvermittelt, aber regelmäßig entfaltenden Schmetterlingsschwärme in meinem Bauch – kann eine große Pein sein, eine Herzensqual, die Goethe in Sätze von umwerfender Melancholie (und sehr viel Pathos!) meißelte.
Aber zurück zu „Die Leiden des jungen Werther“ und zur Wirkung des Buches. Denn leider gibt es direkt nach dem Erscheinen auch zahlreiche Nachahmer, die sich mit einer Feuerwaffe umbringen. Die Kirche sieht in dem Buch die Verherrlichung des Selbstmords, ein Jahr nach der Veröffentlichung wird der Roman vom Rat der Stadt Leipzig verboten.
Sein Leben lang ist Goethes Beziehung zu seinem unseligen Alter Ego ambivalent: „Wie oft habe ich diese verrückten Seiten verflucht.“ Ironie des Schicksals: mit 72 Jahren verliert Goethe sein Herz an ein junges Mädchen von 17 Jahren und macht ihm einen Heiratsantrag, den es jedoch ablehnt. Sein Schmerz inspiriert ihn zur „Marienbader Elegie“, gedichtet in einem Seelenzustand, der dem Werthers vergleichbar ist.
Herzlich,
Ihr Florian Schmidt
(02.07.2021 / F. Schmidt)