Klassische Musik, wie man sie garantiert nicht erwartet: In Taiwan ist Beethovens „Für Elise“ das Signal, den Müll rauszubringen. Müllwagen mit Lautsprechern, die den berühmten Klavierklang durch die Straßen schicken, sorgen dafür, dass keiner die Abholung verpasst. Was für Außenstehende kurios klingt, ist für Millionen Taiwaner längst gelebter Alltag.
Wenn in Taipeh oder Kaohsiung die vertrauten Töne von Beethovens „Für Elise“ durch die Straßen klingen, ist es kein Schüler am Klavier, kein Handy-Klingelton und auch kein Eiswagen – es ist die taiwanische Müllabfuhr. Und in Taiwan bedeutet das nicht, dass sie Müll abholt, der fein säuberlich an den Bordstein gestellt wurde. Nein – es bedeutet: Jetzt heißt es selbst rausgehen, Tüte in die Hand, bereit zum musikalischen Nachbarschaftsritual.
Seit den 1990er Jahren dürfen Müllsäcke in Taiwan nicht einfach irgendwo abgestellt werden. Stattdessen müssen sie persönlich an das gelbe Müllfahrzeug übergeben werden – zu festen Zeiten. Um das Ankommen der Müllabfuhr zu signalisieren, spielt der Truck Musik. Und zwar nicht irgendeine: Beethovens „Für Elise“ wurde als Melodie für das taiwanische Ritual ausgewählt. Warum gerade dieses Stück? Niemand weiß es so genau. Einige erzählen, ein Gesundheitsbeamter habe seine Tochter das Stück üben hören und für passend befunden. Andere glauben, die Melodie sei schlicht in der Standardsoftware der Müllwagen vorprogrammiert gewesen. Was aber sicher ist: Es hat funktioniert. Der Klang ist zum kollektiven Impuls geworden, den Müll rauszubringen – für hunderttausende Menschen in taiwanesischen Städten.
Was für Außenstehende skurril klingen mag, ist für viele Menschen vor Ort eine liebgewonnene Gewohnheit – und manchmal sogar mehr als das. Denn die Müllabholung in Taiwan ist auch eine Bühne für Begegnung. Wer an die Straße runtergeht, trifft Nachbarn, Kinder auf Fahrrädern, Menschen mit Hunden an der Leine oder Paare, die sich hier zufällig kennengelernt haben. Viele Menschen in Taipeh empfinden daher das Müllrausbringen nicht als lästige Pflicht, sondern als kleinen sozialen täglichen Höhepunkt – eine Gelegenheit, Bekannte zu treffen, kurz zu plaudern und ein wenig ins Gespräch zu kommen. So war Beethovens „Für Elise“ auch während der Pandemie wie eine kleiner Lichtblick am Tag: Das Stück kündigte nicht nur die Müllabfuhr an, sondern auch ein Stück Normalität, das man mit Abstand, aber gemeinsam, erleben konnte.
Dabei steckt hinter dem musikalischen Müllsystem ein ernstes Ziel. In den 80er und 90er Jahren galt Taiwan noch als „Müllinsel“ – Müllberge, brennende Deponien, eine überforderte Infrastruktur. Heute sieht das ganz anders aus: Taiwan gehört zu den saubersten und fortschrittlichsten Ländern in der Abfallverwertung. Möglich wurde das durch radikale Reformen: Nur, wer einen offiziellen Müllsack gekauft hat, darf überhaupt etwas wegwerfen. So wird jeder Müllakt zu einer bewussten Handlung. Wer den Beutel dann umgeben von Beethoven-Musik übergibt, weiß sehr genau, wie viel er wegwirft – und wie oft.
Die Müllmelodie mit Beethovens "Für Elise" ist dabei nicht nur akustische Information, sondern auch Emotion, Ritual und ein klanggewordener Taktgeber des Alltags. Was bleibt, ist ein verblüffendes Beispiel dafür, wie klassische Musik in den urbanen Alltag integriert werden kann – nicht als Hochkultur, sondern als ganz praktisches Zeitzeichen. Und wer weiß – vielleicht würde Beethoven schmunzeln, wenn er wüsste, dass seine „Elise“ heute nicht nur Herzen rührt, sondern auch das Müllsystem revolutioniert.
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