Hört man den Namen Carl Orff, beginnt in vielen Köpfen sofort ein gewaltiger Chor: „O Fortuna!“ Die ersten Takte der „Carmina Burana“ gehören zu den bekanntesten musikalischen Momenten des 20. Jahrhunderts. Doch Orff war weit mehr als der Komponist eines weltberühmten Chorwerks. Er war ein Visionär, ein Grenzgänger – und einer der bedeutendsten Musikpädagogen seiner Zeit.
Geboren am 10. Juli 1895 in München, wuchs Orff in einem musisch geprägten Elternhaus auf. Schon als Kind erhielt er Unterricht in Klavier, Orgel und Cello, sang in Chören und begann früh zu komponieren. Im Alter von nur 16 Jahren hatte er bereits Dutzende Lieder geschrieben – darunter Vertonungen von Texten Heinrich Heines. Besonders prägend war seine Begeisterung für das Musiktheater Richard Wagners, die ihn zum Musikstudium führte. Doch während viele Zeitgenossen den traditionellen Weg gingen, suchte Orff nach neuen Formen des Ausdrucks.
Nach ersten Engagements als Kapellmeister in München, Mannheim und Darmstadt zog es ihn zurück in die Welt der musikalischen Bildung. 1924 gründete er mit der Tänzerin und Gymnastikpädagogin Dorothee Günther in München eine Schule, die Bewegung, Sprache und Musik gleichwertig behandelte. Aus dieser Arbeit entstand das bis heute einflussreiche Orff-Schulwerk – ein didaktisches Konzept, das Kindern den Zugang zur Musik auf spielerische, körpernahe Weise ermöglicht. Statt Theorie und Drill setzte Orff auf Erlebnis, auf Rhythmus, auf das gemeinsame Tun. Kinder sollten nicht nur über Musik sprechen oder sie notieren – sie sollten sie erfahren, durch den eigenen Körper, durch Stimme, Bewegung, Instrumente.
Dieses Denken übertrug sich auch auf seine Kompositionen. Die berühmteste, die „Carmina Burana“, entstand zwischen 1935 und 1936. Orff wählte mittelalterliche Texte über Liebe, Schicksal, Lebenslust – viele davon aus dem Benediktbeurer Codex – und schuf daraus ein Werk, das archaisch wirkt und zugleich modern ist. Mit großem Chor, kraftvollem Schlagwerk, eingängigen Rhythmen und einer bewusst reduzierten musikalischen Sprache entfaltete er eine Intensität, die das Publikum bis heute fesselt. „Alles, was ich bisher komponiert habe, können Sie vergessen. Mit der Carmina Burana beginnt mein Werk“, schrieb er nach der Uraufführung – und stellte damit selbstbewusst einen Neubeginn in den Raum.
Auch seine späteren Werke wie „Catulli Carmina“ oder „Trionfo di Afrodite“ gehören zur sogenannten „Trionfi“-Trilogie und setzen seine Idee fort, Theater, Musik und Sprache eng miteinander zu verweben. Orff griff auf antike Stoffe zurück, suchte das Ritualhafte, das Ursprüngliche. Die Musik sollte nicht bloß begleiten, sondern ein Teil der Handlung sein – roh, unmittelbar, körperlich spürbar.
Trotz umstrittener Aspekte seiner Biografie, insbesondere seines Wirkens während der Zeit des Nationalsozialismus, gilt Orff heute als einer der prägenden Komponisten und Denker des 20. Jahrhunderts. 1961 wurde in Salzburg das Orff-Institut gegründet – eine Ausbildungsstätte für Musik- und Bewegungspädagogik, die seine Arbeit weiterträgt. Carl Orff selbst wurde mit zahlreichen Ehrungen bedacht und 1982 – seinem Wunsch entsprechend – in der Klosterkirche Andechs beigesetzt. Ein stiller Abschied für einen Künstler, dessen Ideen bis heute lebendig sind.
Orff glaubte daran, dass Musik mehr ist als ein ästhetisches Produkt. Für ihn war sie ein Ausdruck des Menschseins – körperlich, unmittelbar, bewegend. Seine Werke, seine Pädagogik, seine Ideen zeigen: Musik beginnt dort, wo Menschen sich mit Leib und Seele einbringen. Und genau das spürt man noch heute, wenn sich der Chor erhebt: „O Fortuna, velut luna…“