Mit "Zukunftsmusik" gegen Publikumsschwund!

Philharmonisches Orchester Bremerhaven:Mit "Zukunftsmusik" gegen Publikumsschwund!

Sitzplätze im Orchester,Quartierkonzerte, aktuelle Themen und teils freier Eintritt - hier weht "Zukunftsmusik" schon heute.

Mit "Zukunftsmusik" gegen Publikumsschwund!Foto: Joaquin Corbalan/Adobe Stock

Klassisches Konzert kann auch abschrecken

In Bremerhaven erklingt “Zukunftsmusik". Denn so lautet das neue verheißungsvolle Konzept des Philharmonischen Orchesters. Es ist eine Art Rettungsplan angesichts rückläufiger Abozahlen und ausbleibender Besucher. Ein Zustand, der nicht nur auf die Pandemie zurückzuführen ist, meint Marc Niemann, Generalmusiker und Chefdirigent: "Wir sehen natürlich auch, dass das klassische Konzert, wie wir es so kennen: das Licht geht aus, ein Mensch kommt rein und dreht einem den ganzen Abend den Rücken zu und dirigiert. Es ist überhaupt nicht interaktiv, man darf sich überhaupt nicht freuen oder Anteil haben, man muss sehr streng sitzen und schweigen. Dass all das manche Leute auch abstößt".

Aktuelle Themen spielen eine große Rolle

Mit dem Konzept "Zukunftsmusik" soll sich das nun ändern. Dabei gibt es mehrere Ansatzpunkte. Zum einen thematisch: so versuchen die Sinfoniekonzerte stets aktuelle Themen aufzugreifen. In dieser Spielzeit geht es zum Beispiel um Natur, Naturschutz und Naturzerstörung, in der Nächsten soll es dann um Immigration, Emigration und das Zusammenprallen verschiedener Kulturen gehen.

Wir wollen aus unserem Konzertsaal raus und Quartierkonzerte geben, neue Locations suchen, auch in der Region, um auch mal Leute zu erreichen, die mit einem Theaterbesuch gewisse Schwellenängste verbinden.
Marc Niemann, Generalmusiker und Chefdirigent, Philharmonisches Orchester Bremerhaven

Miteinander statt Frontal-Bespielung

Ein besonderes Augenmerk liegt jedoch auf der Entwicklung neuer Konzertformen, betont Marc Niemann: "Wir wollen bewusst Formate entwickeln, um mit dem Publikum in Kontakt zu kommen. Wir haben z.B. nach Konzerten eine Art "Meet & Greet" entwickelt, um uns auszutauschen mit unserem Publikum, wir wollen dem Publikum teilweise ermöglichen, auf der Bühne zu sitzen, im Orchester an Konzerten teil zu nehmen. Außerdem wollen wir aus unserem Konzertsaal raus und Quartierkonzerte geben, neue Locations suchen, auch in der Region, um auch mal Leute zu erreichen, die mit einem Theaterbesuch gewisse Schwellenängste verbinden."

Das ist heute anders als noch vor 20, 30 Jahren. Da konnte man hier sitzen und drauf warten, wer kommt. Heute müssen wir ganz aktiv das Publikum suchen
Marc Niemann, Generalmusiker und Chefdirigent, Philharmonisches Orchester Bremerhaven

Aktiv das Publikum suchen

Gerade außerhalb der Städte gibt es dabei noch einiges an potentiellem Publikum zu gewinnen, erläutert der Generalmusikdirektor: "Es ist ja heute ein ganz großes Thema, dass in den ländlichen Räumen das Kulturangebot immer dünner wird und dass natürlich auch das Problem ist, dass gerade Leute, die nicht mehr ganz jung sind, sich scheuen, in die nächste Großstadt fahren. Auch dort gibt es viele interessierte Menschen, die wir erreichen wollen. Zu denen wir, glaube ich, hingehen müssen. Das ist heute anders als noch vor 20, 30 Jahren. Da konnte man hier sitzen und drauf warten, wer kommt. Heute müssen wir ganz aktiv das Publikum suchen."

Es passiert nichts Schlimmes, es ist noch nicht mal teuer. Geh doch einfach mal hin und hör es dir an. Zur Not gehst Du in der Pause, wenn es Dir nicht gefällt!
Marc Niemann, Generalmusiker und Chefdirigent, Philharmonisches Orchester Bremerhaven

Sinfoniekonzerte tun nicht weh!

Doch nicht nur die Hemmschwelle der Entfernung soll gesenkt werden, damit auch finanzielle Hürden weniger eine Rolle spielen, gibt es auch dafür Pläne, verrät Marc Niemann: "Wenn das durchgeht - es muss ja auch vom Träger entschieden werden - werden wir für unter 25-Jährige und  auch für Geflüchtete freien Eintritt in die Sinfoniekonzerte anbieten. Um zu sagen: "Es passiert nichts Schlimmes, es ist noch nicht mal teuer. Geh doch einfach mal hin und hör es dir an. Zur Not gehst Du in der Pause, wenn es Dir nicht gefällt".

Statt Köttbullar mal eine Sinfonie

Besucher aller Altersgruppen erwünscht

Trotzdem möchte sich das Philharmonische Orchester Bremerhaven ganz bewusst nicht nur auf die jüngeren Besucher konzentrieren: "Es ist doch eigentlich egal, wer kommt. Ob der jetzt fünf, 25 oder 75 Jahre alt ist, ist doch egal. Seien wir mal ehrlich: die Leute, die zwischen 30 und 50 sind, die gründen gerade Familien, bauen Häuser, schrauben an ihre Karriere. Die sind abends um 19.30 Uhr einfach oft fertig und sind mal froh, wenn sie auf ihrem Sofa sitzen. Die kommen nicht so schnell ins Theater, die sind schwer zu erreichen. Wir öffnen uns allen."

Mitten drin statt nur dabei

Aus diesem Grund versucht das Orchester auch, die Musikvermittlung aus der Kita und Schulecke herauszuholen und klar zu machen, dass sich jeder, auch Erwachsene und regelmäßige Konzertbesucher Fragen stellen und Neues dazulernen können. So gibt es zum Beispiel offene Orchesterproben und unkonventionelle Pläne: "Wir denken gerade darüber nach, ob wir nicht während unserer Konzerte einige Plätze auf der Bühne anbieten. (...) Dass man wirklich ein paar Stühle ins Orchester stellt und diese Plätze verkauft, so dass interessierte Besucher auch mal die Möglichkeit haben, mitten im Orchester zu sitzen, mich auch einmal von vorne zu sehen und die Nähe der Orchestermusiker zu spüren und die unmittelbare Emotionalität der Musik aufzugreifen", erläutert der Chefdirigent begeistert.

Keine Berührungsängste

Besucher, die einem bei den Proben über die Schulter schauen und bei der Vorstellung vielleicht mit in die Partitur? Klingt gewöhnungsbedürftig, doch die Musikerinnen und Musiker des Orchesters sehen es gelassen: "Unsere Musiker haben sich auch ganz aktiv an den Workshops beteiligt, in denen wir dieses Zukunftskonzept entwickelt haben. Die tragen das enorm mit, haben selber auch Ideen eingebracht und selber Education Formate mit unserem Musikvermittler entwickelt", schwärmt Marc Niemann.

Offenheit in beide Richtungen

Zudem sei es natürlich auch wichtig, keine Berührungsängste bei Cross Over, Filmmusik oder Unterhaltungsformaten zu haben, betont Marc Niemann. Gleichzeitig dürfe man aber auch bewusst eine ernste musikalische Auseinandersetzung bieten, z.B. mit zeitgenössischer Musik - vorausgesetzt, sie werde erklärt und kommuniziert. Denn bei allem dürfe man nicht den Markenkern vergessen, den die Orchester haben. "Wir haben einen Kulturauftrag und wir sollen auch das musikalische und kulturelle Erbe, was sich entwickelt hat und was enorm wertvoll ist für unsere Gesellschaft, weitertransportieren und dafür sind wir eigentlich da!"

Es ist auch mal das Publikum gefordert, dass man nicht nur ins Konzert geht mit dem Anspruch: 'Ich geh' dahin, schalt' mein Hirn aus und lass' mich bedienen'!
Marc Niemann, Generalmusiker und Chefdirigent, Philharmonisches Orchester Bremerhaven

Im Konzert das Handy aus, aber nicht das Hirn

So sei es wichtig, das Publikum auch mal zu fordern. Gerade bei komplexer Musik wären dann natürlich Einführungen und Erklärungen notwendig. Gleichzeitig meint Marc Niemann: "Auf der anderen Seite ist auch mal das Publikum gefordert, dass man nicht nur ins Konzert geht mit dem Anspruch: 'Ich geh' dahin, schalt' mein Hirn aus und lass' mich bedienen', sondern es geht auch manchmal darum, aktiv einzudringen in diese Welt und zu versuchen, zu verstehen, was da überhaupt gesagt wird mit musikalischen Mitteln."

Kultur auf dem Rückzug?

Denn manchmal scheine im punkto Kultur Masse statt Klasse zu gelten: "Es wurde, glaube ich, noch nie so viel Musik rezipiert wie zur Zeit, die ist ja omnipräsent durch Youtube, Musikstreamingdienste etc. Aber: nichts destotrotz, die kulturell hochwertige Musik, die es in allen Genres gibt oder die ernsthafte Auseinandersetzung mit Musik, die ist auf dem Rückzug. Und ich nehme es so wahr, dass Kultur generell eher auf dem Rückzug ist , manchmal, aus unserer Gesellschaft und dass das kompensiert wird durch eine Ausweitung des Kulturbegriffs, in dem man sagt: 'Kultur ist jetzt alles.' Und der Meinung bin ich nicht!"

Jedes Orchester, das irgendwo abgebaut wird, führt zu einem starken Rückgang der Kultur, der durch nichts anderes aufzufangen ist
Marc Niemann, Generalmusiker und Chefdirigent, Philharmonisches Orchester Bremerhaven

Orchester müssen überleben

Umso wichtiger scheint es, ist ein Fortbestand der Orchester, die aktuell vielerorts für ihr Daseinsberechtigung kämpfen müssen und deren Existenz immer öfter bedroht ist. Nach einem Appell für die Orchester gefragt, antwortet Marc Niemann: "Das Besondere in Deutschland ist ja, dass wir für den Bereich der Orchesterliteratur eine Art Grundversorgung haben. Das gibt es in keinem anderen Land in der Breite, dass so viele auch mittlere und kleine Städte Orchester haben. Ich finde, die Orchesterliteratur ist nicht nur einfach eine Facette der Musik, die man mal anhören kann, sondern das ist auch unser kulturelles Erbe. Damit werden Werte transportiert, die für unsere Gesellschaft enorm wichtig sind. Jedes Orchester, das irgendwo abgebaut wird, führt zu einem starken Rückgang der Kultur, der durch nichts anderes aufzufangen ist".

Dank des "Zukunftsmusik"-Konzeptes sieht es zum Glück ganz so aus, als würde zumindest das Philharmonische Orchester in Bremerhaven noch lange nicht dazugehören. Und wer weiß - vielleicht können sich andere Orchester ein paar Rettungsstrategien abschauen.

09.03.2023

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