Heute gilt „Schwanensee“ als Inbegriff des klassischen Balletts – doch seine Uraufführung 1877 war ein Desaster. Intrigen, künstlerische Fehlgriffe und Spott begleiteten das Debüt. Wie konnte dieses Werk dennoch zur Ikone werden? Eine Geschichte voller Dramatik, Scheitern und triumphaler Wiedergeburt.
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, geboren 1840, war ein Komponist, der zwischen den Welten wandelte: westlich geschult, aber tief in der russischen Seele verwurzelt. Seine Musik war emotional, komplex und oft ihrer Zeit voraus. Während seine Opern und Sinfonien bald Anerkennung fanden, wagte er sich 1875 auf neues Terrain: das Ballett. Mit „Schwanensee“ sollte er nicht nur sein erstes Ballett schreiben, sondern auch die Regeln des Genres neu definieren.
Die Inspiration kam durch einen Besuch in Bayern. Tschaikowsky reiste 1876 nach Bayreuth, um Wagners Opern zu erleben, und besuchte das märchenhafte Schloss Neuschwanstein, das von Schwanenmotiven und Wagner'scher Romantik durchdrungen war. Der Mythos des Schwanenritters Lohengrin und die mystische Atmosphäre des Schlosses prägten seine Fantasie nachhaltig. Doch die Uraufführung seines Balletts sollte alles andere als märchenhaft verlaufen.
Am 4. März 1877 hob sich im Moskauer Bolschoi-Theater der Vorhang für „Schwanensee“. Doch statt Applaus erntete das Werk Hohn und Spott. Die ursprünglich vorgesehene Primaballerina Anna Sobeschtschanskaja war durch einen Skandal ersetzt worden. Ihre Nachfolgerin, Pelageja Karpakowa, konnte die anspruchsvolle Doppelrolle der Odette/Odile nicht überzeugend darstellen. Die Choreografie von Wenzel Reisinger wurde als uninspiriert kritisiert, das Orchester spielte unsauber, und die Bühnenbilder wirkten lieblos. Kritiker bemängelten die Musik als „zu laut“, „zu wagnerianisch“ und „zu symphonisch“ für ein Ballett. Tschaikowsky selbst war enttäuscht, doch das Schicksal seines Werkes sollte sich noch wenden.
Nach dem Tod Tschaikowskys 1893 erlebte „Schwanensee“ eine Renaissance. 1895 inszenierten Marius Petipa und Lew Iwanow in St. Petersburg eine überarbeitete Version, die sowohl choreografisch als auch musikalisch überzeugte. Diese Fassung wurde zum Maßstab für alle folgenden Produktionen und machte das Ballett weltweit bekannt.
Im 20. Jahrhundert wurde „Schwanensee“ zum kulturellen Phänomen. In der Sowjetunion diente es als Symbol staatlicher Macht: Nach dem Tod von Führern wie Brezhnev oder während des Putschversuchs 1991 wurde das Ballett im Fernsehen ausgestrahlt, um politische Unsicherheiten zu überbrücken. In jüngerer Zeit wurde es zum Zeichen des Protests gegen das Regime Putins, mit Graffiti von tanzenden Schwänen als stillem Widerstand.
„Schwanensee“ hat längst die Grenzen des klassischen Balletts überschritten. In Filmen wie Darren Aronofskys Psychothriller „Black Swan“ (2010) wurde die Geschichte neu interpretiert, während Choreografen wie Matthew Bourne mit einer rein männlichen Besetzung neue Akzente setzten. Auch in der Musik und Werbung findet das Ballett immer wieder Verwendung, von Taylor Swifts „Shake It Off“ bis zu Barbie-Filmen.
Die Geschichte von „Schwanensee“ ist der beste Beweis, dass selbst ein katastrophaler Beginn nicht das Ende bedeuten muss. Durch künstlerische Vision, Anpassung und kulturelle Relevanz wurde aus dem einstigen Flop ein zeitloses Meisterwerk, das Generationen von Zuschauern verzaubert und inspiriert.