Vom Biedermeier zur großen Bühnenkunst - Wie „Hänsel und Gretel“ zur Weihnachtsoper wurde

Vom Biedermeier zur großen Bühnenkunst - Wie „Hänsel und Gretel“ zur Weihnachtsoper wurde

Bevor Engelbert Humperdinck Hänsel und Gretel zur berühmtesten Märchenoper der Musikgeschichte machte, war der Stoff bereits auf deutschen Bühnen zu Hause. Doch erst seine Version verwandelte das Grimmsche Märchen in ein Werk von zeitloser Tiefe. Warum gerade diese Oper überlebte, was sich über die Jahrzehnte verändert hat und wie Humperdinck sich sein Werk selbst dachte – ein Blick hinter die Kulissen und zu hören am 4. Advent bei Klassik Radio .

Hänsel und Gretel ComicversionFoto: krissikunterbunt/stock.adobe.com/generated with AI

Ein Märchen macht Karriere

Als Engelbert Humperdinck seine Oper Hänsel und Gretel 1893 zur Uraufführung brachte, war das Märchen längst vertraut. Schon Jahrzehnte zuvor hatte man versucht, den Stoff musikalisch auf die Bühne zu bringen. Singspiele, kleine Opern, bürgerliche Bühnenwerke – sie alle griffen die Geschichte von den verirrten Kindern, dem Wald und der Hexe auf. Doch kaum eines dieser Werke ist heute mehr als eine Fußnote der Musikgeschichte.

Ein frühes Beispiel ist die Vertonung von Georg Kremplsetzer aus den 1850er Jahren. Solche Fassungen standen noch fest in der Tradition des Biedermeier-Singspiels: überschaubar, moralisierend, deutlich auf häusliche Unterhaltung ausgerichtet. Das Märchen diente vor allem der Belehrung. Musik war Träger guter Manieren, klarer Botschaften und einer Weltordnung, in der am Ende alles wieder seinen Platz fand.

Humperdinck setzte genau hier an – und ging zugleich weit darüber hinaus.

Hänsel und Gretel, Darstellung von Alexander Zick
Foto: Gemeinfrei
Hänsel und Gretel im Märchen (Darstellung von Alexander Zick)

Vom Hausmärchen zur Kunstoper

Der entscheidende Unterschied beginnt schon bei der Entstehung. Humperdincks Hänsel und Gretel war kein kalkuliertes Bühnenprojekt, sondern wuchs aus einem familiären Spiel heraus. Seine Schwester Adelheid Wette schrieb zunächst Verse für ein kleines Märchenspiel für ihre Kinder. Humperdinck vertonte diese Texte, erweiterte sie, formte sie um. Erst allmählich entstand daraus eine vollwertige Oper.

Diese Herkunft prägt das Werk bis heute. Humperdinck wollte keine ironische Distanz, keine pädagogische Parabel. Er wollte Nähe. Die Kinderfiguren sollten echt wirken, die Eltern fehlbar, der Wald zugleich Bedrohung und Zuflucht. In Briefen betonte er, dass ihm die „Wahrhaftigkeit der Empfindung“ wichtiger sei als äußerer Effekt. Hänsel und Gretel sollte berühren, nicht belehren.


Am 4. Advent, dem 21. Dezember 2025, um 15 Uhr erklingt Hänsel und Gretel in voller Länge bei Klassik Radio. Eine wunderbare Gelegenheit, dieses Märchen nicht nur wiederzuhören, sondern neu zu entdecken.


Warum frühere Fassungen verschwanden

Die älteren Opern- und Singspielversionen litten an einem grundlegenden Problem: Sie nahmen das Märchen zu wörtlich. Hexe böse, Kinder brav, Ende gut. Humperdinck hingegen verstand, dass das Märchen mehr ist als Handlung. Es ist ein Seelenraum. Hunger, Angst, Geborgenheit, Vertrauen – all das wird bei ihm musikalisch ausgeformt und ernst genommen.

Während frühere Werke dem Publikum erklärten, was richtig und falsch ist, ließ Humperdinck die Musik sprechen. Die bekannte Nähe zur großen spätromantischen Oper, die dichte Orchesterbehandlung und die feine Verarbeitung volkstümlicher Motive verliehen dem Stoff Tiefe. Das Märchen wurde nicht verkleinert, sondern vergrößert.

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Die Intention des Komponisten

Humperdinck selbst sah seine Oper nie als reine Kinderoper. Er sprach von einem Werk „für Kinder und solche, die es geblieben sind“. Entscheidend war für ihn die Balance zwischen Einfachheit und künstlerischem Anspruch. Die Melodien sollten unmittelbar zugänglich sein, doch die musikalische Struktur anspruchsvoll genug, um auch erfahrene Hörer zu fesseln.

Besonders wichtig war ihm der zweite Akt, der Wald, der Abendsegen, die Traum- und Engelsszene. Hier wird das Märchen zeitlos. Nicht mehr Handlung steht im Mittelpunkt, sondern das Gefühl des Ausgeliefertseins – und die tröstende Vorstellung von Schutz. Dass gerade diese Szenen bis heute zu den bekanntesten der Oper zählen, bestätigt Humperdincks Instinkt.

Oper Hänsel und Gretel an der Wiener Staatsoper
Foto: Francisco Peralta Torrejón/CC BY-SA 4.0
Hänsel und Gretel, Aufführung an der Wiener Staatsoper

Früher und heute

Was hat sich seit 1893 verändert? Vor allem der Blick auf das Stück. Während man Hänsel und Gretel lange als gemütliche Weihnachtsoper betrachtete, lesen heutige Inszenierungen oft die dunkleren Schichten mit. Armut, Vernachlässigung, Angst vor dem Verlorengehen – Themen, die im Märchen immer angelegt waren, treten stärker hervor.

Und doch bleibt Humperdincks Grundidee erhalten: Wärme, Trost und Menschlichkeit. Genau darin unterscheidet sich seine Oper bis heute von ihren Vorgängern. Sie ist kein Produkt ihrer Zeit geblieben, sondern ein Werk, das jede Generation neu lesen kann.

Ein Märchen, das geblieben ist

Dass wir heute praktisch nur noch Humperdincks Hänsel und Gretel kennen, ist kein Zufall. Er hat dem Stoff eine musikalische Sprache gegeben, die über Mode und Epoche hinausweist. Aus einem einfachen Märchen wurde eine Oper, die Erwachsene ebenso erreicht wie Kinder – und die gerade in der Adventszeit ihre besondere Wirkung entfaltet.

Holger Hermannsen / 15.12.2025

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