Es klingt wie der Auftakt eines Kriminalromans: Ein junger Komponist, erfüllt von Liebesqual und Eifersucht, reist mit zwei Pistolen im Gepäck quer durch Europa nach Paris – entschlossen, ein Drama zu erzwingen. Doch was Hector Berlioz 1831 in jener Nacht erleben sollte, entschied nicht nur über sein Leben, sondern auch über seine musikalische Karriere.

Als Hector Berlioz 1831 in Italien weilte, hatte er den ersten großen Triumph seines Lebens hinter sich: den Gewinn des begehrten Prix de Rome. Doch seine Gedanken kreisten nicht um Kunst, Ruhm oder Zukunftspläne. In seinem Inneren tobte etwas anderes – die unglückliche Liebe zu Harriet Smithson, jener Schauspielerin, deren Auftritt als Ophelia sein innerstes erschüttert und ihn zu seiner „Symphonie fantastique“ inspiriert hatte.
Eines Tages erreichten ihn Gerüchte, Harriet wolle einen anderen Mann heiraten. Für Berlioz, ohnehin empfänglich für extreme Gefühle und melodramatische Fantasien, brach eine Welt zusammen. Er schrieb atemlose Briefe, rang mit sich selbst und stürzte schließlich in einen emotionalen Strudel, wie er ihn später in seiner Musik unsterblich machte.
In den folgenden Stunden verlor der 27-Jährige jedes Maß. Er schrieb fieberhaft, packte seine Koffer, besorgte sich zwei Pistolen und plante, noch am selben Tag nach Paris zurückzukehren. Nicht etwa um ein Gespräch zu suchen. Sondern um ein Drama zu erzwingen, wie es einem romantischen Melodram hätte entspringen können.
Später wird er selbst in seinen Memoiren zugeben, dass er in jenen Stunden „nicht Herr seiner Gedanken“ gewesen sei. Dass die Wut ihn führte, nicht die Vernunft.
Der gefeierte Komponist, der mit seiner „Symphonie fantastique“ gerade erst ein Werk über Obsession, Liebesqual und imaginären Mord veröffentlicht hatte, war im Begriff, Fiktion und Wirklichkeit gefährlich zu vermischen.

Als Berlioz nach einer strapaziösen Fahrt in Paris ankam, wartete er voller fiebriger Spannung auf den Moment, an dem er Harriet gegenübertreten würde. Doch etwas Seltsames geschah: Die Stadt, die er so gut kannte, wirkte plötzlich wie ein Spiegel seiner eigenen Unruhe. Er irrte durch Straßen, die ihm vertraut waren und in denen er sich dennoch verloren fühlte.
Mit jedem Schritt schien die Wut ein wenig zu verblassen. Die Vernunft kehrte zurück, gefolgt von Scham, Nachdenklichkeit. Statt Harriet aufzusuchen, streifte er stundenlang durch Paris, bis die Nacht ihn beruhigte und die ersten Strahlen des Morgens einen klareren Kopf brachten.
Die schönsten Werke dieser Epoche können Sie natürlich bei Klassik Radio Plus genießen: "Best of Romantik" - die großen Komponisten der Romantik in einem Sender von Schumann, Berlioz bis hin zu Mahler und Wagner. Jetzt reinhören.
Schließlich kehrte Berlioz in seine Wohnung zurück, erschöpft, aber wach geworden. Er erkannte, wie nah er daran gewesen war, alles zu verlieren: seine Zukunft, seine Kunst, sich selbst.
Er stand am Rand eines Abgrunds und drehte im letzten Moment um.
Und er tat das, was er immer tat, wenn das Leben ihn zu überwältigen drohte: Er komponierte. Aus der Dramatik dieses Tages ging ein neuer Schaffensdrang hervor, der ihn zu einigen seiner bedeutendsten Werke führte. Die Kunst wurde sein Anker, seine Ordnung. Die Pistolen derweil blieben unbenutzt und Harriet die er später tatsächlich ehelichen sollte - erfuhr nie von seinem Vorhaben.

Der Tag, an dem Berlioz fast alles zerstört hätte, wurde zum Wendepunkt seines Lebens. Ein Moment, in dem die Leidenschaft ihn fast überrollte, in dem die Romantik hätte zur Tragödie werden können. Doch Berlioz entschied sich anders.
Für die Musik. Für die Vernunft. Für ein Leben, das noch so viele fantastische Werke hervorbringen sollte.
Heute, 222 Jahre nach seiner Geburt, liest sich diese Episode wie das düstere Kapitel eines romantischen Romans, das sich doch noch zum Guten wendet. Weil ein junger Künstler, überwältigt von Gefühl und Schmerz, rechtzeitig stehen blieb. Und weil aus genau diesem Innehalten jene Kraft erwuchs, die seine Musik bis heute unverwechselbar macht.
* Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzerklärung zur Kenntnis


