Wer will denn eigentlich noch Chefdirigent sein?

Brüggemanns prüfender Blick Wer will denn eigentlich noch Chefdirigent sein?

Jeden Freitag um 09:40 Uhr und 16:10 Uhr kommentiert Klassikexperte Axel Brüggemann das Geschehen aus Klassik und Kultur.

Wer will denn eigentlich noch Chefdirigent sein?

Letzte Woche hatte ich mir hier bereits Gedanken über die Zukunft des Dirigenten-Berufs gemacht. Und es sind noch einige Gedanken hinzugekommen. Vor allen Dingen, was die Dirigentin Joana Mallwitz betrifft: sie hatte angekündigt, den Job als Generalmusikdirektorin in Nürnberg aufzugeben, weil sie ein Kind erwartet, weil sie neue Prioritäten setzen will.

Ist es wirklich so, dass Mutter und Maestra nicht miteinander vereinbar sind? Nein, natürlich nicht! Es gibt genügend Beispiele, bei denen das geht. Weitgehend problemlos.

Könnte Mallwitz’ Entschluss, ihren Vertrag nicht zu verlängern, nicht mit etwas anderem zu tun haben? Zum Beispiel mit den Strukturen an deutschen Stadttheatern? Ist es eigentlich wirklich noch erstrebenswert, Chefdirigent an einem Theater zu sein? 

Die Kreativität kommt oft zu kurz

Das bedeutet nämlich auch: Ewige Auseinandersetzungen mit dem Betriebsrat über Probezeiten, Dienstpläne und Gastspiel-Reisen, andauernde Abstimmung mit Intendanten und: politisches Antichambrieren. Zu sehen war das gerade bei Dirk Kaftan in Bonn: Seine Vertragsverlängerung war daran gebunden, möglichst wenig Orchesterstellen abzuschaffen.

Generalmusikdirektorin oder Generalmusikdirektor zu sein, bedeutet oft eben auch, seine kreative Kraft für politische Arbeit und Management-Aufgaben zu opfern. Zeit, die beim Einstudieren von Beethoven, Bruckner oder Brahms verloren geht! 

Und vor allen Dingen: Man muss sich das auch nicht mehr antun. Es gibt inzwischen genügend freie Ensembles, in denen viel mehr Zeit in die Arbeit gesteckt wird – freie Orchester ohne staatliche Bindungen. So wie die Kammerphilharmonie Bremen von Paavo Järvi, MusicAeterna von Teodor Currentzis oder die Capella Aquileia von Marcus Bosch.

Ein Trend: zweigleisig fahren

Marcus Bosch übrigens (er ist auch Vorsitzender der Konferenz der Generalmusikdirektoren) habe ich neulich bei seinen Opernfestspielen in Heidenheim getroffen, und er erzählte mir, dass viele Musiker inzwischen zweigleisig fahren: 50 Prozent Sicherheit bei einem großen Orchester, 50 Prozent Freiheit für eigene Kreativität.

Das ist ein vollkommen neuer Trend – und Marcus Bosch fordert zu Recht: Deutschlands Orchester müssen dringend über ihre Strukturen nachdenken. Zu aufgeblasen, zu unbeweglich, zu unkreativ!

Die neue Freiheit - ein Zeichen für Orchester

Selbst Dirigenten wie Christian Thielemann scheinen derweil kein Problem mehr damit zu haben, bald ohne Orchester (wie die Staatskapelle Dresden) dazustehen: In Interviews erklärt Thielemann den Vorteil der neuen Freiheit, den Luxus, eingeladen zu werden und als genialer Gast empfangen zu werden. Vollkommen ohne Verantwortung für das Tagesgeschäft, für Wirtschaft und Politik.

Die neue Freiheit unserer Musikerinnen und Musiker sollte unseren Orchestern zu denken geben. Sie sind die größten und teuersten Positionen der Subventionskultur – und täten gut daran, über Modernisierungen nachzudenken, wenn sie auch weiterhin überleben wollen.

(06.08.2021/ A. Brüggemann)

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05.08.2021

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